Courage-Preis 2024 für Saša Uhlová
Der Courage-Preis für aktuellen Journalismus 2024 geht an die tschechische Autorin Saša Uhlová für den Film: „Die Unsichtbaren. Arbeiterinnen aus Osteuropa“. Der Preis wird am 21. September 2024 in Berlin verliehen. Er ist mit 1.200 Euro dotiert.
Begründung der Jury:
Das Lohngefälle zwischen West- und Osteuropa ist hoch. Das zieht viele Frauen nach Deutschland, Frankreich oder Irland, wo sie weit unterhalb des Mindestlohns unter sklavenähnlichen Bedingungen schuften. Saša Uhlová findet Agenturen, die sie in Deutschland in die körperlich harte Arbeit der Gemüseernte und -verpackung vermitteln. Auf einem deutschen Bauernhof arbeitet sie mit Polinnen, die ohne den Verdienst in Deutschland ihre Familien nicht ernähren könnten. Der Hofbesitzer ist Deutscher, seine Frau Polin. Mit in einer Brille versteckten Kamera dreht Uhlová bewegte Bilder, wie sie und ihre Kolleginnen angetrieben werden, manchmal 12 oder 14 Stunden am Tag. Bezahlt wird nur die vorgeschriebene Zeit. In Irland sind es Slowakinnen, die in den Hotels die Zimmer putzen, die Klos mit den Handtüchern sauber machen und nebenbei noch kellnern müssen. In Frankreich ist Uhlová schwarz in der privaten Krankenpflege beschäftigt und weitgehend auf sich gestellt.
Der 44-jährigen Uhlová geht es wie ihren Kolleginnen. Alle lassen ihre Familie zurück, um das Geld für ihr Überleben zu verdienen. Zu ihrem Mann und den Söhnen hat sie nur abends per Zoom Kontakt, erzählt, was sie erlebt hat. Den eigenen Vater muss sie sterbenskrank in Prag zurücklassen, als sie aufbricht, um mit verdeckter Kamera die niedrig bezahlten Frauen zu begleiten. Seinen 80. Geburtstag feiert sie noch mit ihm in Prag. Doch als er stirbt, kann sie nur noch seine Beerdigung erreichen. Dem Vater ist der Film gewidmet. Saša Uhlová ist die Tochter des namhaften tschechischen Oppositionellen Petr Uhl, der die Charta 77 mitgegründet hat und der als Journalist mehr als neun Jahre in Haft saß. Saša Uhlová hat ein sehr persönliches Porträt ihrer Familie und des europäischen Arbeitsmarkts gedreht. Den wünscht sie sich anders. Und wir, die wir doch alle davon wissen, tun wenig, um diese Bedingungen zu ändern.
Buch und Realisation: Saša Uhlová
Regie: Apolena Rychliková
Arte Redaktion: Barbara Bouillon
Die deutsche Fassung des Films wurde am 19.3.2024 in Arte ausgestrahlt.
Courage-Jury:
Brigitte Fehrle
Annette Hillebrand
Magdalena Kemper
Helga Kirchner
Dr. Sibylle Plogstedt
→ Pressemitteilung zu den jb-Medienpreisen, 19.6.2024 (PDF)
21.09.2024
Laudatio Annette Hillebrand
Liebe Sasa Uhlova,
ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Die Jury des Courages-Preises verneigt sich vor Ihnen, in tiefer Bewunderung. Ich tue es hier stellvertretend für uns.
Sie haben Ihren Mann, Ihre Söhne und Ihren schwer erkrankten Vater in Prag zurückgelassen – und haben in Deutschland, in Irland und in Frankreich so geschuftet wie „Die Unsichtbaren“, so der Titel Ihres Films. Wie Frauen aus Tschechien, aus Polen, aus der Slowakei, die fern ihrer Heimat und ihrer Familie arbeiten.
Ein Bauernhof in Deutschland. Im Gestell Ihrer Brille eine Kamera, mit der sie das Ackern, das Schuften der Frauen dokumentieren. Mindestens zehn Stunden täglich müssen sie arbeiten, oft sind es mehr und das jeden Tag.
Für € 6,20/Stunde.
Die Arbeitsaufsicht kommt auf den Hof. Deutschland! Da soll alles mit rechten Dingen zugehen. Und Sie zeigen uns, wie die Bücher gefälscht, die Aufsicht nach Strich und Faden betrogen wird.
Ihr Vater, liebe Sasa Uhlova, stirbt. Und Sie sind nicht da, nicht bei ihm, nicht in Prag. Sie zeigen in Ihrem Film, welche Angst Sie haben, dass das geschehen wird. Sie sind nicht da – wie die Frauen, die Sie uns zeigen, nicht da sind, wo sie leben und arbeiten sollten.
Ihr Vater war Ihnen nicht nur ein journalistisches Vorbild, Sie werden gleich etwas dazu sagen können.
Man nennt die Frauen, deren Leben Sie uns zeigen, „Arbeitsmigrantinnen“. Ein Begriff, der so mager, so unzureichend ist. Die Frauen nehmen doch ein Leben mit! Ihr Herz, ihr Sehnen nach Zuwendung, nach Nähe und Empathie.
Das, liebe Sasa Uhlova, wird berührend deutlich am Ende Ihrer Dokumentation. Da arbeiten Sie in Frankreich als Hilfe im Haushalt alter Menschen, die allein leben.
Sie, die „Arbeitsmigrantin“, sind von der Agentur, die Sie eingestellt hat, kalt sich selbst überlassen. Mal dieser Mann, mal diese Frau, per Handy wird jede Minute, die Sie mit diesen Menschen verbringen, registriert. Und Sie, Sie ringen: doch noch die Füße massieren? Gemeinsam essen? Noch ein bisschen Rummikub-Spielen? Sie ringen um Minuten, die ja auch Ihr Herz erwärmen, um etwas Nähe, die Sie – fern Ihrer Heimat – nährt.
Wir erleben Sie in diesem Ringen, es ist herzzerreißend.
Danke. Danke, dass Sie die Unsichtbaren sichtbar gemacht haben, unter solch schmerzhaftem persönlichen Einsatz.