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Laudatio für Jenni Roth

Jenni Roth, Courage-Preis 2018. Verleihung der jb-Medienpreise 2018 am 30.6.2018 in Berlin (Fotos: Susan Paufler)

Liebe Anwesende, liebe Jenni Roth,

„Wenns schon emotional is: Net nochmal draufdrücken“, das hat Reporterin Ele Schöfthaler uns als Dozentin beigebracht, als ich damals die Journalistenschule besuchte. Man vergisst ja vieles von der Schule, aber diesen Satz habe ich so oft danach gebraucht, der ist in meinem festen Repertoire. Weniger ist mehr. Ich musste spontan an diesen Satz denken, als ich den Report von Jenni Roth las, den wir heute auszeichnen.

Weniger ist mehr. Das zu einem so langen Text zu sagen, zu einer Autorin, die sich erklärtermaßen auf lange Texte spezialisiert hat, klingt ein bisschen merkwürdig. Aber lesen Sie diesen Text. Sehen Sie, wie kurz und wie einfach die Sätze sind. Und spüren Sie, welche emotionale Wucht das Thema schon von ganz alleine hat, und wie man diese Wucht nur ganz leicht berühren muss, damit sie in allen Lesenden wieder entsteht. Dann wissen Sie wieder, wie Recht Ele Schöfthaler hat: Bitte bitte, nicht noch mal drauf drücken. Es ist schon heftig genug.

Hier sitzen sehr viele Journalistinnen. Wir wissen alle genau, wie einen Ungeheuerlichkeiten überwältigen können, wie gern man sie dann in Großbuchstaben weitervermitteln würde, wie kein Adjektiv krass genug zu sein scheint. Wir wissen aber natürlich auch, dass das nicht die feine journalistische Art ist. Wir wissen auch, wie man ohne krasse Adjektive Effekte herstellt, mit Kunstpausen, mit Ein-Wort-Sätzen, mit Wiederholungen. Das wirkt dann kunstvoll, aber insbesondere wir Älteren hören da eben auch das Handwerk klappern. Und ich habe genossen, dass da bei Jenni Roth nichts klappert, gar nichts. Mir ist sogar ein kleines Klischee dazu eingefallen, und zwar, weil Jenni Roths Mutter aus Finnland kommt und Frau Roth deshalb einen Bezug dahin hat: Finnisches Design. Das ist auch so einfach und elegant.

Was hätte man nicht alles schreiben können zu diesem Thema. Eine Joggerin wird ermordet. Einen ähnlichen Fall gab es in der Nähe, ein Flüchtling war Schuld. All unsere Ängste konzentriert in Endingen im Kaiserstuhl: Die unschuldige Frau, die ich hätte sein können. Der unbekannte Fremde, womöglich ein Geflüchteter – in einer aufgeheizten Stimmung, die sich gerade gegen Flüchtlinge wendet. Da springt so viel an. Wir erleben gerade, dass die Abscheu gegen sexuelle Gewalt sich kreuzt mit einem wachsenden Rassismus gegen Geflüchtete. Und gerade Feministinnen sind in einem komplizierten Dilemma. Sexuelle Gewalt gehört skandalisiert. Aber wer sexuelle Gewalt von Flüchtlingen skandalisiert, arbeitet den Rassistinnen und Rassisten in die Hände.

Und Jenni Roth setzt genau das dagegen, was man dagegen setzen muss: Einfach bleiben. Genau bleiben. Bei den Dingen bleiben, die da sind, nicht immer bei all den Fantasien, die mit erzeugt werden. „Entkatastrophisieren“, sagt die Psychologie dazu. Und dieses „bei den Dingen bleiben“, das bringt hier dann noch etwas anderes zum Vorschein. Wie so ein kleines Städtchen funktioniert. In dem sich alle kennen. Wie dort alle teilnehmen, mit suchen, mitmachen. Nicht nur die freiwillige Feuerwehr.

Wie zwei Hobbytaucher des örtlichen Tauchclubs „Pinguine“ in einen eiskalten trüben Tümpel steigen, einer muss würgen, weil er so stinkt. Er muss mit den Händen auf dem Grund herumtasten und nicht wissen, ob sie da gleich die Leiche ihrer Bekannten unter den Fingern spüren. Wie der Polizeichef nicht mehr schlafen kann. Und sich am Sonntag auf den Marktplatz zu den Leuten stellt, damit Endingen nicht allein ist mit diesem Mord.

Unsere Gesellschaft, die so gespalten und uneins und unruhig wirkt. Sie lebt und ist warm in diesem Text. Jenni Roth zeigt, ohne es ein einziges Mal explizit zu sagen: Ja, es geschehen schlimme Dinge. Aber es gibt auch eine Aufgehobenheit.

Ich möchte noch betonen, dass dieses Jahr mit dem Couragepreis erstmals eine freie Journalistin ausgezeichnet wird. Jenni Roth, das erzähle ich noch kurz, ist ebenfalls in einer süddeutschen Kleinstadt aufgewachsen, hat Kommunikationswissenschaften in Münster studiert, bei der „Welt“ in Berlin ihr Volontariat gemacht und ist nun freie Journalistin für Hörfunk und Print. Spezialisiert hat sie sich auf lange Texte und Features. Wie finanziert man das denn, fragen Sie sich alle, und die Antwort ist: Organisieren, rechnen, sich selbst quer finanzieren, mit gut bezahlten Texten, die einem vielleicht nicht ganz so viel Herzblut abverlangen. Es ist aber jedenfalls eine Kunst.

Dass Jenni Roth diesen Text so verfasst hat, hat sie einiges gekostet. Ein halbes Jahr hat sie dem Polizeisprecher in den Ohren gelegen. Sie hat versucht, mit der Familie des Opfers Kontakt aufzunehmen. Die Familie hat nicht gewusst, wie Jenni Roth arbeitet. Sie hatte der „Bunten“ ein Interview gegeben – und wollte danach nie wieder etwas mit der Presse zu tun haben. Kann man einen solchen Text schreiben, ohne mit den Hauptpersonen gesprochen zu haben? Was mache ich, wenn die Ermittlungen im Sande verlaufen? War dann alles umsonst? Eine fest angestellte Reporterin geht dann in ihre Redaktion und sagt: Sorry, außer Spesen nichts gewesen. Alle ärgern sich, aber das Gehalt ist trotzdem auf dem Konto.

Freie Journalistinnen tragen das Risiko, dass eine lange Recherche ins Nichts führt, ganz allein. Sie arbeiten – aber am Ende kommt kein Honorar. Ich finde es absolut bewundernswert, dass Jenni Roth dieses Risiko immer wieder eingeht. Für all das verleiht der Journalistinnenbund ihr heute den Courage-Preis. Herzlichen Glückwunsch!

Heide Oestreich

Heide Oestreich, Laudatorin Courage-Preis.
Verleihung der jb-Medienpreise 2018 am 30.6.2018 in Berlin (Fotos: Susan Paufler)