Laudatio für Sandra Petersmann
Laudatio, gehalten von Angelica Netz, Chefredakteurin (WDR) am 4.6.2016 in Berlin
Ich freue mich sehr, dass ich die erste Laudatorin des Courage Preises für aktuelle Berichterstattung bin. Vor allem aber freue ich mich, dass ich die Laudatio für eine Journalistin halten darf, die ich sehr, sehr schätze – als Autorin, Reporterin, Korrespondentin, vor allem aber auch als Frau und Kollegin.
Es ist der Courage Preis für aktuelle Berichterstattung – und Courage hat Sandra Petersmann!
Sie lebt und arbeitet genau da hin, wo sie leben und arbeiten will: In Neu Delhi – Berichtsgebiet Südasien. Es ist keine Komfortzone für Journalisten: Kriege, Krisen, Katastrophen, oft schwierige, fast unmögliche Arbeitsbedingungen und patriarchalische Gesellschaften. Neu Delhi ist nicht also unbedingt der Platz, an den es mögliche KorrespondentInnen der ARD zieht.
Aber Sandra Petersmann ist, so sagt sie, Journalistin geworden, um Reporterin zu sein – zu reisen und mit Menschen zu sprechen. Länder sinnlich zu erfahren und die Erfahrung mit ihren Reportagen, Features und Berichten mit anderen zu teilen. Und Reporterin ist sie – durch und durch, mit Leib und Seele, mit großer Neugier und hoher Professionalität.
Seit vier Jahren ist sie Korrespondentin in Neu Delhi. Aber ihr Berichtsgebiet kennt sie schon lange – von Reisen und Vertretungen im Studio. Und bereits als 20jährige reiste Sandra Petersmann aus dem westfälischen Hamm mit einer Hilfsorganisation zum ersten Mal nach Afghanistan und erlebte als junge Reporterin den afghanischen Bürgerkrieg.
Sie sah Menschen leiden und sterben – und das hat sie geprägt. Seitdem will Sandra Petersmann als Reporterin hinterfragen, nachfragen und verstehen, den Menschen und ihren unterschiedlichen glücklichen oder leidvollen Geschichten eine Stimme geben und sie will – so sagt sie – vor allem auch dann noch hinschauen, wenn andere schon wieder wegschauen. Und genau das tut sie!
Das erste, was mir an Sandra Petersmann auffiel waren ihre Augen – unglaublich wach und zugewandt – die Augen einer Reporterin, die alles um sich herum und vor allem die Menschen wahrnehmen will. Das nächste war ihre Stimme, sanft und eindringlich. Aber es war nicht nur die Stimme, die mich faszinierte, es war das, was Sandra Petersmann erzählte und wie sie es erzählte. Mit einer Leidenschaft, die spüren ließ, wie sehr sie für ihre Arbeit brennt und mit einer Empathie, die eine Reporterin auszeichnete, die nah dran sein will an den Menschen in ihrem Berichtsgebiet. Wenn Sandra Petersmann erzählt – und das tut sie in ihren Reportagen, Berichten, Gesprächen und Feature entstehen die berühmten „Bilder im Kopf“ – aber es entsteht noch mehr: Verständnis für die Menschen, für ihre Schicksale, ihre Lebensverhältnisse. Sandra Petersmann liefert das, was Radio braucht – Emotionen und ganz nebenbei kluge Analysen und eine fundierte Einordnung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse.
Natürlich spricht auch Sandra Petersmann mit Offiziellen, mit Regierungsvertretern oder Militärs. Aber sie spricht vor allem mit Jenen, die in diesen Ländern keine oder nur eine leise Stimme haben: Sie spricht mit den Frauen in Indien, Pakistan oder immer wieder und vor allem in Afghanistan.
Nach dem Taliban-Regime hat Sandra Petersmann beobachten können, dass Mädchen in Afghanistan wieder zur Schule und Frauen wieder zur Arbeit gehen konnten. Die Müttersterblichkeit ist gesunken, es sitzen Frauen im afghanischen Parlament. Doch hat sich damit die Situation von Frauen in Afghanistan geändert? Die Antwort auf diese Frage lässt Sandra Petersmann von den afghanischen Frauen selbst beantworten: Zwangsverheiratete, Flüchtlinge, Studentinnen, Ärztinnen und sogar Afghanistans First Lady, Rula Ghani, interviewt sie und liefert so ein ganz unterschiedliches Bild der Frauen des Landes.
Ich erinnere mich, dass Sandra Petersmann bei ihrer Bewerbung in der Runde der Chefredakteurinnen und –redakteure gefragt wurde, ob das Berichtsgebiet Südasien denn für eine Frau als Reporterin eine gute Idee sei? Sie hat darauf geantwortet: Wenn Sie die Hälfte der Menschen dort nicht ausschließen wollen, ist eine Frau als Reporterin dort gerade richtig.
In der Berichterstattung unserer männlichen Korrespondenten kommen Frauen nämlich so gut wie nicht vor – ganz einfach, weil sie in Pakistan, Afghanistan oder Indien gar nicht mit einem männlichen Reporter reden dürfen. Mit Sandra Petersmann reden sie und trauen sie sich auch ganz andere Geschichten zu erzählen, die sie einem Mann nie erzählen würden.
Deshalb, egal in welches Land sie reist, nie würde Sandra Petermann die Frauen vergessen. Sie hört ihnen zu, zugewandt und auf Augenhöhe und daraus entstehen bemerkenswerte, einfühlsame Portraits und Reportagen, die meist mehr über Politik und Gesellschaft des Landes aussagen als kluge Analysen oder Kommentare. Es sind starke Frauen wie Anisa Razuli, die verhinderte Verfassungsrichterin in Afghanistan oder die Menschenrechtlerin Sima Samar, die so viel erlebt hat und im Interview mit Sandra Petersmann dann doch in Tränen ausbricht.
Und es sind Frauen wie Leila auf den Malediven, die nicht so heißt, und in einem lauten Cafe – um nicht abgehört zu werden – von ihrem Bruder in Syrien und der Radikalisierung der jungen Männer in dem Insel-Paradies erzählt. Und es sind Opfer von Kriegen, wie Latifa aus Afghanistan, die Sandra Petersmann ihre Geschichte erzählt, während sie in einem Krankenhaus auf das Wechseln ihrer Beinprothese wartet oder es sind Frauen wie Aisha, Opfer von Säureattacken ihre Ehemänner, die heute in einem Schönheitssalon in Lahore arbeiten. Sie alle sprechen mit Sandra, sie öffnen sich und vertrauen darauf, dass die Reporterin ihre Geschichte erzählt. Ich habe die große Gabe von Sandra Petersmann schon erwähnt: es ist ihre Art, auf Menschen zuzugehen und ihr Vertrauen zu gewinnen, ihre Empathie und Sensibilität als Reporterin.
Aber noch andere Dinge zeichnen Sandra Petersmann aus: Und das sind ihr Mut und ihre Hartnäckigkeit genau über das zu berichten, was sie denkt, dass berichtenswert ist.
Sandra Petersmann ist mutig, ohne wagemutig zu sein. Gerade in Afghanistan, das sie nie losgelassen hat und das sie immer wieder besucht, ist sie oft nur mit Producern unterwegs. Aber sie weiß dabei immer, das eigene Risiko ihrer Reisen einzuschätzen. Das verursacht uns, in den Funkhäusern zuhause, manchmal Kopfschmerzen. Aber nur so entstehen die großartigen Reportagen und Berichte aus Gegenden, die kein „embedded Journalist“ bereist und die uns dann so eindrücklich die „Seele“ dieser so vielschichtigen und komplizierten Regionen vermitteln.
Dabei ist das, was Sandra Petersmann zu berichten hat, nicht immer angenehm für Regierungen, Militärs und Behörden. Und so ist sie nicht immer willkommen, wie im Vorfeld der
Präsidentschaftswahlen in Sri Lanka. Anfang 2015 verweigerte man ihr die Einreise, weil sie – so die Begründung – in der Vergangenheit zu negativ berichtet habe. Der NDR als Federführer des Studios Neu Delhi beschwerte sich offiziell beim Außenministerium in Sri Lanka aber erst mit dem Regierungswechsel erhielt Sandra Petersmann dann ihre Erlaubnis zur Einreise. Aber auch nur, weil sie hartnäckig blieb. Mit „offiziellen“ Absagen gibt sie sich nicht zufrieden und legt sich durchaus auch mit den Behörden an. Auch dazu gehört Mut!
Aber, ich habe es anfangs erwähnt, Sandra Petersmann ist nicht nur eine herausragende Journalistin und Reporterin, sie ist auch ein wunderbarer Mensch und eine großartige Kollegin. Sie kann so viel und weiß so viel und ist dabei so uneitel und bescheiden. Sie ist – wie auch die Kollegen im Studio Neu Delhi sagen – die angenehmste Kollegin, die man sich vorstellen kann. Sandra Petersmann geht es immer um die Sache, um ihre journalistische Arbeit als Korrespondentin und Reporterin. Für sie stehen immer andere im Mittelpunkt, die Menschen, mit denen sie zu tun hat, über die sie berichtet und reportiert.
Heute steht sie – zu Recht – einmal im Mittelpunkt: als erste Preisträgerin des Courage-Preis des Journalistinnenbundes für aktuelle Berichterstattung.