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Der weiße Blick: Keynote von Charlotte Wiedemann beim 6. jb-Medienlabor

Carlotte Wiedemann hielt die keynote beim Medienlabor 2018 (© Lale Cakmak)

Carlotte Wiedemann hielt die Keynote beim Medienlabor 2018 (© Lale Cakmak)

I

Wer blickt wie auf wen?

Das ist eine Grundfrage des Zusammenlebens – ebenso wie eine Grundfrage der Medien.

Zu ergänzen wäre: Wer blickt mit Macht auf wen? Und repräsentiert dieser Blick ein WIR, von dem andere empfinden: da bin ich nicht gemeint?

Wir können diese Fragen anhand der drei Kategorien Geschlecht, soziale Herkunft, migrantische Herkunft durchdeklinieren und wir werden für verschiedene Zeitabschnitte verschiedene Antworten bekommen. Medien sind nicht inklusiv, und am dauerhaftesten wird in Deutschland womöglich die Exklusion nach sozialer Herkunft sein.

Ist der mediale Blick ein Blick von oben, aus dem Blickwinkel der Mächtigen? Ist es womöglich der Blick der Saturierten, der sogenannten Leistungsträger auf die anderen, die weniger Leistenden, die Nicht-Mitkommenden, die Beschränkteren? So ähnlich empfinden es manche rechten Wutbürger.  Für sie sind die „System-Medien“ Ausdruck eines ihnen aufoktroyierten „bunten Deutschland“  –  obwohl es der Medienwelt ja an Buntheit fehlt.

Der Hass richtet sich darum besonders gegen jene herausragenden Einzelnen, die eine erkennbar nicht-deutsche Familiengeschichte haben – und zugleich anscheinend Macht und Einfluss. Natürlich ist dieser Hass schlimm. Aber er enthebt uns nicht der Frage, warum einzelne Migranten im Medienbetrieb so sehr mit Etabliertheit assoziiert werden und in der Breite die Medienwelt so weiß geblieben ist. Darauf werden wir zurückkommen müssen.

II

Was bedeutet guter Journalismus, wenn eine Gesellschaft aus immer mehr Zugewanderten besteht? Können Medien, so wie sie bisher funktionieren, überhaupt zum Gelingen einer Einwanderungsgesellschaft beitragen?

Professioneller Journalismus findet heute in einem radikal veränderten Umfeld statt – und professionell soll hier bedeuten: eine bezahlte Tätigkeit für privatwirtschaftliche oder öffentlich-rechtliche Medien. Radikal verändert ist das Umfeld zunächst, weil gesellschaftliche Mobilisierung heute ohne diese Altmedien und teils auch gegen sie möglich ist, durch eine Zivilgesellschaft, die sich rechts bis rechtsradikal geriert.

Zugleich verlangt die Einwanderungsgesellschaft ein neues, am Gemeinwohl orientiertes Selbstverständnis von Journalisten.

Ein Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt: Deutschland ist zur Einwanderungsgesellschaft geworden, gegen die Medien. Sie haben die Entwicklung mehr behindert als gefördert, sie waren das Schlusslicht beim Marsch in eine neue Zeit. Dies zeigt sich an jedem Konferenztisch: Schützenvereine sind heute interkultureller als Journalistenrunden.

Wichtiger aber ist: Medien haben über Jahre entscheidend das negative Image muslimischer Einwanderer geprägt. Die „Islamisierung des Abendlandes“ begann nicht bei Pegida, sondern auf den Titelseiten des SPIEGEL. Die Medien tragen insbesondere Verantwortung für die Verachtung, mit der die deutsche Öffentlichkeit auf die muslimische Frau blickt. Bis heute illustrieren Redaktionen das Thema Bildungsdefizite am liebsten mit einem Kopftuch. Eine neue Generation hoch gebildeter Musliminnen in Deutschland ist gegen die Medien herangewachsen. Das enorme Selbstbewusstsein dieser Frauen entstand im Kampf gegen die Geringschätzung, die ihnen an jedem Zeitungskiosk entgegenschlug.

Die Einwanderungsgesellschaft verlangt von Journalisten ein neues Verständnis ihrer Rolle und den Abschied von einem so beliebten wie überholten Selbstbild. Journalisten neigen immer noch dazu, sich an die Stelle der Gesellschaft zu setzen und den Politikern dann in der Pose selbsternannter Volkstribune gegenüber zu treten. Das war vielleicht in den 80er Jahren schick. Das vielstimmige Deutschland des 21. Jahrhundert hat an diesen Posen keinen Bedarf mehr.

Was heißt das konkret? Ich sehe die Einwanderungsgesellschaft als eine permanente Werkstatt, in der wir um neue Konsense ringen müssen.

Zum Beispiel: Wie kann Deutschland künftig seiner Verantwortung aus dem Holocaust gerecht werden, wenn ein wachsender Bevölkerungsteil mit der Geschichte der Täter nicht im Entferntesten verbunden ist und durch seine Herkunft womöglich mit anderen, eigenen Traumata mehr beschäftigt ist? Wir müssen lernen, die Geschichte epochaler Dehumanisierungen so zu erzählen, dass sich bei uns darin Menschen – Schüler! – mit unterschiedlichen Herkunfts-Identitäten wiederfinden können.

Davon sind wir heute noch sehr weit entfernt – extrem weit, wenn man bedenkt, wie viele fortschrittliche Milieus allein an der Frage „Wie mit Israel umgehen?“  geradezu blutig zerstritten sind.

In der permanenten Werkstatt der Einwanderungsgesellschaft sollten Journalisten besonders kundige Handwerker sein. Kundig im Übersetzen, im Erklären, durchaus auch im Vermitteln.  Vermitteln heißt nicht beschönigen.

In der Vergangenheit schienen die Medien oft in das Misslingen von Integration verliebt – weil nur das Negative, das Misslungene ein feines Thema ist. In der Summe entstand so ein Zerrbild, an dem sich der Rechtspopulismus genährt hat.

Könnten sich Journalisten auch als Agenten des Gelingens einer Einwanderungsgesellschaft empfinden?

Dafür müssten die Medien allerdings einen Mechanismus überwinden – ich nenne ihn den „angstgesteuerten Eskalationstrieb“. Nichts fürchten Blattmacher und Programmverantwortliche mehr, als verspätet mit zu bekommen, woher der Wind weht (den die Branche selber macht). Bloß nicht als letzter das neueste Worst-Case-Szenario entdecken. Bloß nicht als letzter den Brandgeruch riechen, wenn etwas kokelt. Lieber einen Konflikt schüren, bevor es andere tun. So wird ein Jugendlicher, der seiner Lehrerin nicht die Hand geben will, zum Thema von Millionen quer durch Europa.

Um einen Journalismus zu betreiben, der deeskaliert statt eskaliert, ist Mut und geistige Unabhängigkeit erforderlich.

Trotz ihres Statusverlusts: Medien haben Macht. Nur liegt diese Macht heute vor allem in der außenpolitischen Berichterstattung. Sie entscheidet maßgeblich, ob es in der Einwanderungsgesellschaft eine Bereitschaft zum inneren Frieden und zum Teilen gibt. Es kommt dafür nämlich darauf an, welches Bild von der Welt vermittelt wird  – und von der Rolle der eigenen Nation und der eigenen Lebensweise in dieser Welt.

In der auswärtigen Berichterstattung haben die Altmedien immer noch weitgehend ein Monopol, jedenfalls für alle, die sich nur in deutscher Sprache informieren können. Das ist vor allem die kopfstarke ältere Generation. Und gerade die müssen wir mitnehmen, müssen wir gewinnen für die Akzeptanz einer Gesellschaft, die sich von jener, in der die Alten jung waren, eben sehr unterscheidet.

Die Einwanderungsgesellschaft braucht Medien, die eine aufgeklärte Sicht auf die Konfliktlagen der Welt vermitteln, ohne eurozentrische Denkschablonen. Dazu gehört der präzise Blick auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Mächtigen des eigenen Landes. Eine mit Ressentiments gespickte Berichterstattung, wie es sie über Griechenland gab, kann sich die Einwanderungsgesellschaft nicht leisten. Denn diese Ressentiments verwandeln sich schnell zu Aggressivität im Inneren.

Außenpolitische Berichterstattung ist heute fast nur noch Kriegsjournalismus. Und sie vermittelt eine Welt, in der die Deutschen fast ausschließlich Opfer sind. Opfer schlampiger Griechen, Opfer gieriger afrikanischer Wirtschaftsflüchtlinge und natürlich Opfer muslimischer Terroristen.

Während die Welt jetzt zu uns kommt, wird unser Guckloch auf die Welt immer kleiner: Eine totgesparte Berichterstattung durch schlechtbezahlte freie Journalisten und mit Studio-Experten, die über Weltgegenden reden, die sie nie von Nahem gesehen haben.

Das kann nicht gutgehen.

Wir müssen uns als eine der reichsten Nationen der Erde eine außenpolitische Berichterstattung leisten, die zu unserer geistigen Gesunderhaltung beiträgt.  Und die uns friedensfähig macht, auch gegenüber dem Anderen, dem als Fremd empfundenen zu Hause.

III

Es ist allgemein anerkannt, dass eine Reportage vom Kollegen A ganz anders geschrieben wird als vom Kollegen B; das wird als Subjektivität bezeichnet. Doch haben A und B in der Regel viel mehr gemein, als ihnen bewusst ist: ihren europäischen oder womöglich eurozentrischen Blick. Diese Gruppen-Subjektivität wird jedoch anders als die individuelle Subjektivität kaum reflektiert. Sie ist die selbstverständliche Ausgangsbasis unserer Arbeit.

Gewiss: Gute Journalisten suchen den Blick der anderen Seite – als Ergänzung. Wir fügen ihn aus Gründen der Fairness hinzu oder um unsere Texte farbiger zu machen, im Branchenjargon »authentischer«. Aber wir glauben im Allgemeinen nicht, dass wir den Blick der Anderen brauchen, um uns überhaupt der Wahrheit zu nähern. Im Zweifelsfall würden wir die Wahrheit auch alleine hinkriegen.

Lässt sich mit weniger Wissen besser berichten? So absurd die Frage klingt: Sie wird von fast allen Medien mit »ja« beantwortet. Fast alle Auslands-Korrespondenten werden nach einem bestimmten Turnus, also nach einigen Jahren, ausgewechselt – weil sie sich dann zu sehr akklimatisiert haben, zu sehr akkulturiert sind. Going native wird das abschätzig genannt, ein Ausdruck aus der Kolonialzeit: sich den Eingeborenen annähern. Man kennt die Gesellschaft des Gastlandes bereits zu gut, man wundert sich nicht mehr über alles, kurz: man versteht zu viel. Die Neugier und »der frische Blick für Geschichten« sind verloren gegangen. Der Korrespondent, die Korrespondentin ist aufgrund ihres gestiegenen Wissens quasi journalistisch wertlos geworden.

Denn wenn sie bessere, adäquate Maßstäbe gefunden hat, um ihr Gastland zu beurteilen, dann bekommt sie ein Problem. Denn sie darf sich ja nicht zu weit von den Vorurteilen und Stereotypen der Heimat entfernen, jenen Stereotypen ihres Publikums, die oft auch von den Redakteuren der Zentrale geteilt werden. Wenn wir alle muslimischen Frauen für unterdrückt halten, ist ein emanzipiertes Mädchen »eine Geschichte«.

Unsere Medien wollen nicht, dass ein Inder über Indien berichtet, denn er teilt nicht »unseren Blick«. Und der Deutsche, der zu lange in Indien ist, teilt – oh Schreck – auch nicht mehr so ganz unseren Blick. Wir erhalten uns unsere eurozentrische Perspektive, indem wir ständig für personellen Nachschub sorgen. Natürlich gibt es Ausnahmen: hochqualifizierte Kollegen, die lange in einer Region bleiben oder ein zweites Mal dorthin entsandt werden. Und freie Journalisten, für die das Gastland zur neuen Heimat geworden ist. Aber im Großen und Ganzen gilt: Wie das diplomatische Korps die politischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands vertritt, so sind die Korrespondenten das Korps zur Verteidigung unserer Weltanschauung.

Sich von den Normalitätsvorstellungen seiner eigenen Kultur distanzieren und das Fremde aus dessen eigenem kulturellen und sozialen Kontext begreifen, das wird in einer interkulturell orientierten Strömung der Psychologie »Dezentrierung« genannt. Man hört es förmlich ein wenig wackeln bei diesem Wort. Dezentrierung, das ist die vorsichtige Ablösung von jenem einzigen Verankerungspunkt, den wir unbewusst für die Erdachse halten. Obwohl es doch unser ganz persönlicher geistiger und emotionaler Ankerplatz ist, von dem aus wir die Welt interpretieren. Dezentrierung, das ist Verunsicherung, die Verunsicherung des weißen Blicks auf die Welt. Das muss man wollen; es lässt sich nicht erzwingen. Und in einer Zeit westlichen Sicherheitswahns ist Verunsicherung sehr wenig gewollt.

IV

Im Vergleich zu der Zeit, als ich eine junge Journalistin war, in den frühen 80er Jahren, ist heute gesellschaftlich zweierlei anders: Diversity, sowohl migrantische als auch geschlechtsidentitäre, ist heute anerkannt in Bereichen, wo es damals undenkbar schien, (eine lesbische Fraktionsvorsitzende). Zgleich tritt rechtes Denken heute auf Bühnen, auch auf literarische, wo das gleichfalls sogar bis vor kurzem noch nicht denkbar war.

Und wie wir am ganz durchschnittlichen Migrantenanteil der AfD-Fraktion im Bundestag sehen, kann rechte Ideologie durchaus bis zu einem gewissen Grade Diversität inkorporieren. So wie auch Unternehmen und Werbung Diversity neoliberal gekapert haben.

Ich glaube heute nicht mehr, dass Vielfalt an sich subversiv ist.

In den Medien wird gerade afro-amerikanische Literatur gehypt; die neue Übersetzung von James Baldwin ist bereits ein Beststeller.  Warum erwähne ich das an dieser Stelle? Weil es mir Anlass für ein schönes Zitat gibt. Der schwarze Filmemacher Raoul Peck, aus Haiti stammend, der den grandiosen Baldwin-Film  „I am not your negro“ gemacht hat, sagte folgendes: James Baldwin sei einer der wenigen Autoren gewesen, „die über eine Welt sprachen, die ich kannte, in der ich nicht nur eine Fußnote oder ein drittklassiger Darsteller war.“

Der Journalismus, wie wir ihn kennen, und den ich hilfsweise den weißen Journalismus nenne, macht einen großen Teil der Weltbevölkerung zu drittklassigen Darstellern, nach dem Motto: Die anderen machen Probleme, wir lösen sie.

Und der Baldwin-Hype zeigt in diesem Zusammenhang: es gibt das Bedürfnis, auf der guten Seite der Geschichte zu stehen – aber ohne den eigenen privilegierten Platz aufzugeben.

Würden mehr Journalisten mit Migrations-Hintergrund das ändern? Nicht unbedingt.  Mehr Menschen mit Migrationshintergrund ändern nicht automatisch den weißen Blick in den Medien.

Das müssen sie auch nicht, mag man einwenden. Eine gewisse Repräsentativität der Medien im Verhältnis zu der Gesellschaft, innerhalb der sie tätig sind, ist nicht begründungspflichtig, im Sinne einer speziellen Qualität.

So wie Frauen nicht die besseren Journalistinnen sein müssen, damit sie an Leitungspositionen einen fairen Anteil haben.

Mit dem Begriff der Repräsentativität sollte man auch vielleicht gerade heute vorsichtig umgehen. Denn unausgesprochen wollen wir ja keineswegs, dass alle Milieus, alle Geisteshaltungen gemäß ihrem statistischen Anteil in der Bevölkerung auch in den Medien vertreten sind, nicht wahr?

Ich halte folgendes Szenario für die Zukunft für wahrscheinlich: Der Herrschaftsbezirk, den die professionellen Medien mit ihrer sozialen Klassen-Exklusivität darstellen, nominell bunter wird   – aber wer dahinein kommt, ist bereits ziemlich weiß geworden.

Zwei Beispiele: Es gibt Medienschaffende migrantischer Herkunft, die vehemente Kopftuch-Gegnerinnen sind und die an der diskriminierenden Verwendung von Kopftuch-Fotos keinerlei Anstoß nehmen.

Oder nehmen wir die hiesige Iran-Berichterstattung: In aktuellen Situationen, wie während der Protestwelle Anfang 2018, beeinflussten Deutsch-Iraner und Exil-Iraner die Berichterstattung in einem Maße, die mir etwas unheimlich war.  Zum Vergleich: Niemand überlässt einem geflüchteten Malier auch nur für einen einzigen Tag die Berichterstattung über den dortigen Bundewehr-Einsatz.

Inwiefern eine migrantische Sicht im Mainstream für akzeptabel und medientauglich gehalten wird, das hängt davon ab,  ob die erwartete Sichtweise dem kollektiven deutschen Medien-Wir entspricht. Und dieses Wir sagt z.B: Wir sind gegen die Islamische Republik.

Migrantische Sichtweisen sind herzlich unerwünscht, wenn sie sich nicht folkloristisch integrieren lassen, sondern das vorherrschende Narrativ fundamental in Frage stellen.

Zu einer Minderheit zu gehören oder von den Eltern her aus einer Minderheit zu stammen, ist nicht gleichbedeutend mit Respekt für andere Minderheiten.  Natürlich gibt es wunderschöne Beispiele für Sensibilität über die eigene Betroffenheit hinaus – aber diese Haltung entsteht nicht bei jedem und jeder und schon gar nicht automatisch, und wir können sie auch nicht erwarten!

Um es ganz simpel zu sagen:  Ich möchte nicht mehr „People of Color“  in die Medien bringen, damit die den weißen Blick überwinden. Das wäre eine Delegation, an deren Funktionieren ich nicht glaube. Ich möchte, dass der deutsche Journalismus spät-koloniale Haltungen gegenüber dem Rest der Welt überwindet – das ist eine gemeinsame Aufgabe all derer, die sich politisch entscheiden, das zu wollen.

Das Element der Entscheidung scheint mir wesentlich, Entscheidung ist selbstgewählt. Herkunft nicht.