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Preisträgerin 2007: Wibke Bruhns

Der Journalistinnenbund würdigt in diesem Jahr Wibke Bruhns für ihr journalistisches Lebenswerk mit der Hedwig-Dohm-Urkunde. Als erste Nachrichtensprecherin einer deutschen Fernsehanstalt hat die Journalistin, Moderatorin und Autorin Wibke Bruhns Fernsehgeschichte geschrieben.

Mit einem Schlag wurde sie bundesweit bekannt, als sie im Mai 1971 die Hauptnachrichtensendung „heute“ des ZDF präsentierte. Nach 380 Nachrichtensendungen war es damit genug – sie wurde selbst Reporterin, die das aktuelle Tagesgeschehen kritisch begleitete; zunächst im Inland, ab Ende der 70er Jahre auch im Ausland. Ab 1973 arbeitete sie für „Panorama“, als Korrespondentin des „Stern“ berichtete sie aus Israel und den USA.

Wie vielseitig sie als Journalistin war und ist, zeigt ihr beruflicher Werdegang. Ob in der von ihr lange moderierten politischen Talkshow „Drei vor Mitternacht“ (WDR 3) war, beim „Mittagsmagazin“ (WDR Hörfunk) oder als „Anchorwoman“ beim Privatsender Vox – überall setzte sie erkennbare Akzente. Ihre Berufung zur Kulturchefin des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB) war 1995 keine Überraschung. Im Jahr 2000 betrat sie nochmals berufliches Neuland: Sie wurde Pressesprecherin der „EXPO 2000“, der Weltausstellung in Hannover.

Nach ihrer aktiven Zeit als engagierte Journalistin gelang ihr zuletzt ein höchst beachtliches Debüt als Buchautorin. In jahrelanger Arbeit hatte sie alle Zeugnisse und Dokumente zusammengetragen, um in einer Mischung aus privaten Erlebnissen und zeitgeschichtlichen Erläuterungen die eindrucksvolle Geschichte ihrer Familie zu schreiben. „Meines Vaters Land“, eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und den Verstrickungen der Elterngeneration, führte wochenlang die Bestsellerliste an. Ihre eindrucksvolle Spurensuche nach dem eigenen Vater hat der Rundfunk Berlin-Brandenburg anschließend in einen behutsamen Film umgesetzt.

Vita

1938: geboren in Halberstadt (Sachsen-Anhalt)
1957 – 1960: Studium der Geschichte und Politik an der Universität Hamburgs
1961 – 1962: freie Mitarbeiterin beim Fernsehen des Norddeutschen Rundfunks
1962 – 1968: Redakteurin im Hamburger Studio des ZDF
1971: erste Frau im Fernsehen, die Nachrichten präsentiert
1974 – 1988: zunächst Autorin beim „stern“, dann Korrespondentin in Jerusalem (1979) und in Washington (1984 – 1988)
1995: Leiterin der Kulturredaktion des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg
2000: Sprecherin der „EXPO 2000“ in Hannover
seit 2001: freiberuflich tätig
2004: Veröffentlichung des Buches „Meines Vaters Land – Geschichte einer deutschen Familie“
Wibke Bruhns hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Berlin.

 

Laudatio für Wibke Bruhns, gehalten von Maria Frisé

Liebe Wibke Bruhns, liebe Kolleginnen,

zunächst einmal: Ich habe kaum Übung im Loben, aber hier fiel es mir nicht schwer, weil Sie mir, liebe Wibke Bruhns, ohne Sie persönlich zu kennen, nicht nur durch den Bildschirm, sehr vertraut sind. Ich habe Sie oft bewundert, Ihre Klugheit, Ihre Schlagfertigkeit, Ihre Sachlichkeit, Ihren Mut. Ihren Mut habe ich vor allem nach der Lektüre Ihrer Familiengeschichte bewundert.

Nachdem ich „Meines Vaters Land“ zum zweiten, manches sogar zum dritten Mal gelesen habe, wurde mir klar, wie viel wir gemeinsam haben, was unsere Herkunft und unsere daraus resultierende preußische Prägung betrifft. Ich gebe es zu, beim ersten Mal hatte ich Schwierigkeiten, zu akzeptieren, wie Sie familiäre Tabus aufgebrochen haben. Doch Sie haben mich überzeugt: so ähnlich schonungslos kritisch und in die Zeitläufte des Kaiserreichs bis zum verheerenden Dritten Reich verstrickt, hätte ich meine Familie in meinem eigenen Erinnerungsbuch auch beschreiben sollen. Vielleicht gelingt mir das noch einmal in anderer Form, wenn auch ohne diese Fülle von authentischem Material, über das Sie verfügen konnten und um das ich Sie beneide.

An Mut hat es Ihnen offenbar nie gefehlt. Sie haben die richtigen Entscheidungen wohl immer zur rechten Zeit getroffen, den Wechsel nie gescheut, die Chancen, die sich Ihnen boten, genutzt. Ihr Lebenslauf beginnt gleich mit bemerkenswerten Sprüngen, freiwillig oder erzwungen, in verschiedenen Ländern, von einem Internat zum anderen, von einer Schule zur nächsten. Als Elfjährige haben Sie in Schweden erfahren müssen, dass die Kinder in Ihrer Schule nicht mit Ihnen spielen wollten, weil Sie Deutsche waren. Sie mussten damit allein fertig werden. Möglicherweise hat es sie sicher gemacht, dass Sie Ihr Ziel aus eigener Kraft trotz aller Schwierigkeiten stets erreichen würden.

Verbiegen lassen wollten Sie sich nie. Deshalb ist die verwirrend lange Liste von Stationen ihres journalistischen Lebens nur folgerichtig. Ich zähle hier nur ein paar auf: Volontariat bei der BILD-Zeitung, Mitarbeit beim NDR-Fernsehen, Redakteurin und Moderatorin beim ZDF, Nachrichtensprecherin, die erste überhaupt, was damals eine Sensation war, sie aber auf Dauer nicht befriedigte. Auf den Ratschlag eines männlichen Kollegen „mit Bein und Busen sparsam umzugehen“, haben Sie gewiss mit schallendem Gelächter reagiert. Aber so war das eben damals, als Frauen beim Fernsehen noch selten waren und schon gar nicht vorgezeigt wurden. Manche Kollegen hätten sie, die Frauen, am liebsten wie die Pin-up-Girls im Spind versteckt. „Irgendjemand musste damals die Tür aufmachen, und das habe ich getan“, haben Sie mal gesagt und dabei die hochtoupierten Haare, die gar nicht zu Ihnen passten, in Kauf genommen. Das ironische Lächeln über solche abverlangte Anpassung an den Zeitgeschmack ist Ihnen dabei offenbar nicht vergangen.

Ich habe nicht gezählt, wie viele Magazine zwischen Unterhaltung und Politik Sie moderiert haben. Ich nenne nur ein paar Namen. Sie wechselten vom „Tagesmagazin“ zum „Mittagsmagazin“ und schließlich auch zu „Drei vor Mitternacht“ im WDR, und im „Grünen Salon“ haben Sie auch Hof gehalten. Gleichzeitig schrieben Sie Beiträge für „Panorama“, „konkret“, DIE ZEIT, für GEO oder den „Treffpunkt“ beim Südwestrundfunk. Sie waren in Printmedien ebenso präsent wie in den elektronischen.  Braucht es da noch weitere Beweise für Ihre intensive und kritische Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Geschehen?

Aber die Liste geht ja noch viel weiter. Und dass Sie zwei Kinder bekamen, die Sie 1977, nach dem Tod Ihres Mannes, dem Schauspieler, Autor und Regisseur Werner Bruhns, allein erziehen mussten, möchte ich keineswegs nebenbei erwähnen. Wegen der beiden kleinen Töchter haben Sie ein paar Jahre lang feste Engagements aufgegeben und waren freiberuflich tätig. dass heißt aber nicht, dass die Kinder mitunter ihre Mutter nicht entbehren mussten, weil die für Reportagen und Interviews oft unterwegs sein mußte. Sicherlich haben Sie sich viele Nächte nicht nur wegen fiebernder Kinder sondern auch wegen eines Artikels oder eines fest verabredeten Rundfunkbeitrags um die Ohren schlagen müssen.

Eine passionierte Medienfrau waren und sind sie geblieben, stets bereit Neues zu wagen, ob es die Expo 2000 in Hannover war, wo Sie sich als Pressesprecherin wegen der Konzeptionen wie wegen der Fehlkalkulation auch unangenehmen Fragen stellen mussten. Ein paar Jahre haben Sie die Kulturabteilung beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg geleitet. Sie haben Herausforderungen stets angenommen. Sie scheinen mir überhaupt eine Spezialistin für neue Anfänge zu sein. Oder vielleicht eine Frau, die alles kann, eine die sich zumindest alles zutraut.

Journalismus sei die Möglichkeit, alles zu lernen, was Sie lernen wollten, haben Sie einmal bekannt. Auch für mich ist dieser Beruf so ein hochinteressantes Feld ohne Grenzen und ich wünsche Ihnen von Herzen, dass es Ihnen weiterhin Freude macht, dieses weite Feld zu erkunden und zu beackern.

Ich habe Sie nicht gefragt – wir haben uns ja überhaupt erst heute kennengelernt -, aber ich könnte mir denken, dass drei Stationen Ihres beruflichen Lebens besonders wichtig für Sie waren.

Das war einmal 1972 Ihr Engagement bei der „Sozialdemokratischen Wählerinitiative“ für Willy Brandt. Es brachte Ihnen viel Lob und Befriedigung aber auch Protest ein. Journalisten der Öffentlichen Sendeanstalten hatten neutral zu sein. Über die Einhaltung des Proporzsystems wachten eifersüchtig die politischen Parteien. Als „Rote Zora“ bezeichnet zu werden, haben Sie sicherlich nicht als Verunglimpfung empfunden. Die Rote Zora war schließlich eine besonders sympathische und mutige Heldin im gleichnamigen Jugendbuch von Kurt Held. Der Politik sind Sie später niemals mehr so nahe gekommen. Ich vermute, dass Ihnen damals der Gedanke, auch dieses Feld zu erobern, nicht nur einmal durch den Kopf gegangen ist.

Die zweite besonders wichtige Station war für Sie gewiss Israel und der Nahe Osten. Sie haben ein Buch über Ihre Eindrücke dort geschrieben. Als „impressionistisch- privater Bilderbogen zum Kennenlernen der Heiligen Stadt“ hat ihn ein Kritiker bezeichnet. Das trifft zu, ist aber keineswegs alles. Die sachliche Berichterstattung über den Nahost-Konflikt war Ihnen als politische Korrespondentin stets das Wichtigste.

Als Helmut Kohl 1983 nach Israel kam, haben Sie im „stern“ einen bemerkenswerten offenen Brief an ihn geschrieben. Wenn er ihn sorgfältig gelesen hätte, wäre ihm der faux pas von der „Gnade der späten Geburt“ nicht passiert. „Jeder Deutsche, Herr Bundeskanzler“, haben Sie geschrieben, „muß sich in aller Strenge fragen, ob er das, was ihn hier belastet, nicht benutzt, die Last der eigenen Geschichte abzuwälzen“. Die Erfahrung von vier Jahren, in denen Sie ständig nicht nur mit den Problemen des gefährdeten Israel sondern insbesondere mit dem bis heute ungelösten Palästinenserkonflikt konfrontiert waren, hat sie gelehrt, beide Seiten zu sehen. Sie fanden Freunde sowohl in Israel als auch auf der Westbank und im Gazastreifen.

Die dritte Station, der Korrespondenten-Posten des „stern“ in Washington, von 1984 bis 1988 erweiterte Ihr Weltbild. Sie haben in Amerika viele Reportagen geschrieben. Eine davon über die Folgen des Vietnam-Krieges mit dem Titel Die „Mauer der Versöhnung – das Vietnam Veteran’s Memorial“ wurde mit dem „Egon-Erwin-Kisch-Preis“ ausgezeichnet.

Eine vierte Station und vielleicht ist die für Sie überhaupt die wichtigste – denn diesmal stellen Sie sich ganz persönlich – ist Ihre Beschäftigung mit Ihrer Herkunft und insbesondere mit Ihrem Vater. 2004 kam „Meines Vaters Land“ heraus, die „Geschichte einer deutschen Familie“, Ihrer eigenen Familie. Das Buch besetzte zu Recht lange einen der oberen Plätze der Besteller-Listen und erreichte zahlreiche Auflagen. Zu Recht, weil es Ihnen gelungen ist, am Beispiel Ihrer Familie eine Antwort zu finden auf die Schicksalsfragen unserer Generation: Wie konnte das geschehen? Wie konnte ein mitteleuropäisches Kulturvolk wie das deutsche zum Verbrecherstaat werden? Wie konnte die sogenannte Oberschicht so blind sein für das Unrecht, das auch in ihrem Namen geschah? Wie konnte Nationalstolz entarten zu Rassismus und Menschenverachtung?

Sie mussten sich diesem Koloss von bedrückenden Fragen im Laufe Ihres journalistischen Lebens – gerade auch als Auslandskorrespondentin – immer wieder stellen. Doch die Antwort, die Sie finden mussten als die Tochter eines, der gleich am Anfangt mitgemacht hat, zuletzt aber Widerstandskämpfer war und nach dem 20. Juli hingerichtet wurde, diese Antwort haben Sie lange hinausgeschoben.

Erst als Sie nach dem Tod Ihrer Mutter die Schränke und Kisten mit Briefen, Tagebüchern, Fotoalben und Familiendokumenten öffneten, die den Krieg und den Luftangriff auf Halberstadt, ihrer Heimatstadt, unversehrt überstanden hatten, machten Sie sich an die Arbeit. In mehr als zwei Jahren ist es Ihnen gelungen, ein Stück Zeitgeschichte exemplarisch an Hand von authentischem Material aus Ihrem familiären Umfeld freizulegen.

Es muß für Sie oft erschreckend und zeitweise auch schmerzhaft gewesen sein, was Sie dabei zutage förderten. Die objektive Rolle einer Chronistin konnten Sie nicht immer durchhalten. Sie waren schließlich unmittelbar betroffen. „Ich kann nicht weiterschreiben“, klagen Sie einmal, „Ich fürchte mich vor den nächsten Eintragungen in HGs Tagebuch“. HG, so nennen Sie ihren Vater Hans Georg Klamroth in Ihrem Buch. Sie beschreiben ihn wie einen Fremden, was er ja auch für Sie war, und schonen ihn nicht. Ihre zwiespältigen Gefühle, Ihre moralischen Urteile über die Ehe Ihrer Eltern sind schonungslos offen. Die Versuchung, Ihren Vater in Heldenpose, Ihre Mutter als Opfer zu sehen, stellt sich Ihnen nicht. Doch unverkennbar verstört sind Sie über das, was sich hinter der Fassade großbürgerlicher Ehrbarkeit verbirgt. Und dass es keine Versöhnung mehr zwischen den beiden Eheleuten gegeben hat, ist für Sie ein tiefdunkler Schatten, ein unheilbarer Schmerz.

Die ersten Jahre Ihrer Kindheit in Halberstadt sind „unter Trümmern verschüttet“, schreiben Sie. Sie können sich kaum erinnern außer an das Chaos, das in dem riesigen Großelternhaus herrschte, in dem in den letzten Kriegsjahren Ausgebombte und Flüchtlinge – zeitweise waren es mehr als fünfzig Personen – zumindest ein provisorisches Unterkommen gefunden hatten. Gen au erinnern konnten Sie sich auch nicht an Ihren Vater. Sie waren kaum sechs Jahre alt, als er im August 1944 vor dem Volksgericht von dem furchtbaren Ankläger und Richter Freisler zum Tode durch den Strang verurteilt und wenig später in Plötzensee hingerichtet wurde.

Sie haben Ihren Vater nicht gekannt, denn im Krieg hatte er immer nur wenige Urlaubstage bei seiner Familie verbracht. Ihr Buch ist der Versuch, sich ihm zu nähern. Sie hätten ihn nicht vermisst, schreiben Sie. Es hat Ihnen auch kaum jemand aus der Familie von ihm erzählt. Sie wollten allerdings auch lange nichts von ihm wissen . Ein Heldenname auf einer marmornen Gedenktafel war er für Sie, oder der Mann, der wegen Hochverrats verurteilt worden war. Der Vater, das war eine „sorgfältig umschiffte Schmerzzone“, über die man schwieg oder weinte. Bei den Klamroths dauert das Schweigen und Verschweigen noch Jahrzehnte nach dem Krieg an – wie in vielen anderen Familien auch, egal ob sie nun im Dritten Reich mitgemacht oder Widerstand geleistet hatten.

Wenn Sie sich früher mit Ihrer Familiengeschichte befasst hätten, wäre das Resultat dieser Spurensuche vermutlich eine Schwarz-Weiß-Zeichnung geworden, haben Sie mal gesagt. Die Achtundsechziger, zu denen Sie sich bekannt haben, konnten die jüngste Zeitgeschichte nur verbunden mit selbstgerechten Schuldzuweisungen an die Elterngeneration betrachten. Jetzt, wo der zeitliche Abstand so groß geworden ist, steht Verstehenwollen an erster Stelle, nicht Verurteilen. Verstehen bedeutet nicht entschuldigen, das ist wichtig. Heute ist eine andere und differenziertere Art der Auseinandersetzung möglich. Zum Begreifen, wie es so weit hat kommen können, gehört die Kenntnis der Geschichte der letzten hundert Jahre, gehören die Großmachtsträume wie die Obrigkeitshörigkeit, gehören die Demütigungen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wie die Not, die Arbeitslosigkeit und die Inflation. Der Übergang vom Kaiserreich zur Demokratie war mißlungen, das Chaos war beängstigend.

Sie haben sich bemüht zu verstehen und Sie konnten dieses Verstehen auch anderen vermitteln. Dabei haben Sie das Entsetzen keineswegs unterdrückt, das Sie mitunter packte, wenn Sie in Briefen aus dem Ersten Weltkrieg Sätze lasen wie „Genügend Stricke halten wir schon bereit, denn von diesen Friedensbrechern, den Judenlümmels der Roten Garde, wird jeder aufgebaumelt, der das Glück hat, uns in die Hände zu fallen.“ Da war der junge Klamroth kaum zwanzig und gerade Fähnrich der Kavallerie geworden. Antisemitische Untertöne hatte er oft in seinem Elternhaus gehört, obwohl dort auch beste Beziehungen zu hochgeschätzten jüdischen Geschäftspartnern gepflegt wurden. Es gibt genauso schlimme Sätze aus dem Zweiten Weltkrieg, rassistische und menschenverachtende; da war HG bereits mehrfacher Familienvater und kannte als erfolgreicher Geschäftsmann die Welt nicht nur aus dem Offizierskasino.

Für die kaisertreuen wohlhabenden Klamroths, die Buddenbrooks von Halberstadt, war nach dem verlorenen Ersten Weltkriegs ihre Welt, in der es immer aufwärts gegangen war, zusammengebrochen. Von diesem elementaren Tiefpunkt gesehen, war man deshalb anfällig für die Versprechungen der Nationalsozialisten auf Größe, Macht und Nationalstolz. Man passte sich sofort an und machte mit, um weiterhin zur tonangebenden Oberschicht zu gehören. Zweifel wurden unterdrückt, Else, Ihre Mutter, empörte sich immerhin über die Exzesse in der „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938: „Wir hausen schlimmer als die Hunnen, man schämt sich ein Deutscher zu sein.“ Das war aber schon alles. Kein Wort des Mitgefühls für das Schicksal der Juden. Der Sohn erwähnt zwölf Jahre später ebenfalls scheinbar ungerührt die Erschießung von Gefangenen an der Ostfront und ermahnt sich: „Dabei darf man nicht hart werden.“

Sie haben weit ausgeholt, als Sie begannen, die Geschichte Ihrer Familie zu erzählen. Das war richtig, denn nur auf dem wilhelminischen Hintergrund, auf dem die Klamroths in Halberstadt lebten, konnte deutlich werden, was nach dem Ersten Weltkrieg geschah und zu Hitlers Dritten Reich führte. Die Schmach nach dem verlorenen Krieg, die Angst vor dem Verfall von Besitz und ideellen Werten, zu denen auch militärische Tugenden zählten.

Seit Generationen gehörte Ihre Familie zu den wohlhabenden Honoratioren der Stadt. Der Handel mit Saatgut, Düngemitteln und landwirtschaftlichen Geräten, auch nach Übersee, hatte sie wohlhabend gemacht. Der Großvater, Kommerzienrat, kaisertreu und von der Weimarer Republik enttäuscht, hatte für die große Familie vom prominenten Architekten Muthesius  ein hochherrschaftliches Haus mit Stallungen sowie einem Reit- und Tennisplatz im weitläufigen Park bauen lassen. (Es ist heute ein Vier-Sterne-Hotel, das erste am Platz.) Er war der absolute Patriarch, der seinen einzigen Sohn, manchmal auch die Töchter mit militärischem Drill erzog. Exerzieren und reiterliche Mutproben waren an der Tagesordnung.

Deutschnational war die Gesinnung. Von der Dolchstosslegende nach dem Weltkrieg war man zutiefst überzeugt. Juden und Linke waren an allem schuld. Der jungen Demokratie stand man ablehnend gegenüber. Noch bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war die Klamroths stolz auf die „Rassereinheit unserer Sippe“. Es war keine nur oberflächliche Neigung, auch nicht purer Opportunismus, weshalb die Klamroths wie viele andere deutschnationale Landsleute so anfällig für Hitlers Programm waren, es war eine tiefgehende, fatale Übereinstimmung.

Wann das Umdenken in dieser Familie begonnen hatte, ist nicht mehr festzustellen. Es fehlen die Unterlagen. Längst wusste man, wie gefährlich freimütige Äusserungen waren. Die so rede- und schreibwütigen Klamroths verstummten gegen Ende des Krieges. Nach dem 20. Juli 1944 beschlagnahmte ausserdem die Gestapo Tagebücher und alle schriftlichen Äusserungen von HG.

Sicherlich hat HG als Offizier bei der Abwehr und im nächsten Umkreis von General Stieff, dem Chef der Organisationsabteilung des Heeres, viel gesehen, erfahren, gewusst, was ihn allmählich in den Kreis des militärischen Widerstands gebracht hat. In Dänemark warnte er Oppositionelle vor dem Zugriff der Gestapo. Im berüchtigten Rüstungswerk Dora., wo die Atombombe gebaut werden sollte, hat er die halbverhungerten Elendsgestalten der Zwangsarbeiter gesehen. Mit seinem Schwiegersohn, der den Sprengstoff für das Attentat besorgt hatte, war er bis zuletzt zusammen.

„Ich habe ein Foto von meinem Vater gefunden“, so spontan und direkt beginnen Sie Ihre intensive Suche nach dem unbekannten Vater. Sie haben einen Mann mit seinen Widersprüchen und seinen Abgründen gefunden und eine Familie, deren Entwicklung vom Kaiserreich bis in die Nazidiktatur Sie mit professioneller Distanz über ein halbes Jahrhundert hinweg beschrieben haben. Wer Ihr Buch liest, findet eine Antwort auf die Fragen der Jungen: Wie konnte es geschehen?