WRITING WITH FIRE – Indische Journalistinnen kämpfen für Gerechtigkeit
Ein Film beim DOK.fest München @home
Schmerzlich genau erinnert sich die Frau in der dunklen Lehmhütte: Sie wurde hier in ihrem Zuhause von vier Männern vergewaltigt, wiederholt – am 16., am 18. und an vier weiteren Tagen im Januar, deren Daten sie ebenfalls genau weiß. Doch die Polizei wollte keine Anzeige aufnehmen. Nun erzählt sie Meera, einer Journalistin, was passiert ist. Die sieht sie mit ruhigem Blick an, hört ihr aufmerksam zu, filmt das Interview mit dem Smartphone und geht dann zur Polizeistation, wo sie hartnäckig nachfragt, warum nichts geschehen ist. „Wir trauen niemandem außer dir“, hat ihr der Ehemann zum Abschied gesagt, der dort fünf mal vergeblich vorgesprochen hatte. „Khabar Lahariya ist unsere einzige Hoffnung.“
Meera ist Chefreporterin bei Khabar Lahariya, einer 2002 gegründete Zeitung im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh, mittlerweile mit Website, Social Media Präsenzen und einem YouTube-Kanal, den mehr als 500.000 Menschen abonniert haben. Einige Videos haben mehrere Millionen Aufrufe.
„Wir kämpfen für Gerechtigkeit“, sagt Meera. „Das ist unsere Aufgabe. Sonst wird Journalismus ein Business wie jedes andere.“ Doch nicht nur, weil die Redaktion Pressefreiheit, Unbestechlichkeit und journalistische Sorgfalt dort hochhält, wo Ungleichheit und Korruption häufig den Alltag bestimmen, ist Khabar Lahariya – was übersetzt in etwa Nachrichtenwellen bedeutet – kein Business wie jedes andere. Es ist zugleich das einzige Medium Indiens, das ausschließlich von Frauen gemacht wird, insbesondere von Dalit-Frauen. Dalit werden im eigentlich abgeschafften, aber in einigen Gegenden sehr präsenten, Kastenwesen Indiens als so „unrein“ betrachtet, das sie außer- oder unterhalb der anderen vier Kasten stehen. In vielen Dörfern leben sie in eigenen Vierteln, dürfen nicht einmal die selben Wasserpumpen benutzen wie die anderen Bewohner*innen. Und wenn sie misshandelt oder sogar getötet werden, kümmert sich die Polizei oft nicht einmal darum.
Rintu Thomas und Sushmit Ghosh von der indischen Produktionsfirma Black Ticket Films haben drei dieser Frauen – Meera, Suneeta, Shyamkali – fünf Jahre lang begleitet und daraus ihren ersten abendfüllenden Dokumentarfilm gemacht. „Writing with Fire“ ist ganz nah dran an seinen Protagonistinnen. Die gehen in illegale Minen, bekommen nach einem Jahr Anfragen endlich ein Interview mit der rein männlichen Jugendorganisation der nationalistischen BJP (Indische Volkspartei) – und müssen sich von männlichen Kollegen erklären lassen, dass es bei einer Pressekonferenz erst einmal Lob zu verteilen gilt, bevor es kritische Fragen gibt. „Von euch bekommt er doch Lob genug“, kontert da die Reporterin.
„Abgesehen von den Reporterinnen von Khabar Lahariya gibt es keine anderen in ganz Uttar Pradesh“, sagt Filmemacherin Rintu Thomas.“ Frauen arbeiten dort im Journalismus sonst nur in der Redaktion. Oder sie kümmern sich um Mode, Unterhaltung, ’softe‘ Themen. So wie sie live über Politik berichten, das ist absolut einzigartig. Ihr ganzes Produktionssystem hat eine feministische Perspektive.“ Und ihr Kollege und Kameramann Sushmit Ghosh meint: „Die schöne Ironie ihrer Arbeit ist, dass diese mächtigen Männer mit ihnen reden müssen“. „Denn sie sind eine anerkannte Quelle glaubwürdiger Information. Menschen außerhalb des Systems beanspruchen friedlich ihren Platz und sie definieren neu, was Macht bedeuten kann.“
Wer selbst einmal beim ersten Video mit dem Smartphone gekämpft hat oder in Redaktionssitzungen heftig darüber diskutiert hat, ob und wie viel digitale Technik Journalist*innen beherrschen müssen, entdeckt noch eine Ironie: Die eigenen Erfahrungen wirken plötzlich ein wenig lächerlich, wenn Kolleg*innen im ländlichen Indien die digitale Transformation stemmen, die vorher nicht einmal ein Smartphone besaßen, die englischen Menübefehle nicht verstehen und daheim keinen Strom haben, um den Akku aufzuladen.
Nicht nur beruflich, auch privat, haben die Frauen in der Dokumentation zu kämpfen. Meera wurde mit 14 verheiratet, bekam bald Kinder, ging trotzdem zur Schule, studierte, verdient nun ihr eigenes Geld. Für alle Redakteurinnen bei Khabar Lariya ist es eine Chance, eigenständig zu leben. Und dennoch zahlen die Familien manchmal lieber eine hohe Mitgift, drängen zu Heirat. Väter und Ehepartner beklagen sich, dass die Frauen arbeiten. Doch die Reporterinnen wissen, wofür sie das tun. „Wenn Meera die Geschichte nicht erzählt, wird es niemand tun, wenn sie nicht aus dieser nuancierte Perspektive berichtet, wird es niemand tun“, sagt Rintu Thomas. „Jahrhundertelang wurden sie zum Schweigen gebracht, endlich haben sie ihre eigenes Narrativ – und dessen sind sie sich bewusst. Das gibt ihnen den Mut, jeden Tag weiter zu machen.“
Was der Film bereits erreicht hat: Der Funke ist übergesprungen. Bei einer Vorführung und Diskussion fragte eine Journalismus-Studentin aus Peru, wie sie das Modell in ihrem Land „kopieren“ könne. „Es ist unser Traum, dass mehr Journalist*innen rund um die Welt mit diesen Frauen Kontakt aufnehmen“, sagt Sushmit Ghosh.
WRITING WITH FIRE
Indien 2021 – Regie: Rintu Thomas, Sushmit Ghosh
Originalfassung: Hindi – Untertitel: Englisch
→ www.writingwithfire.in
Die Doku läuft noch bis 23. Mai 2021 auf dem DOK.fest München @home. Tickets, um den Film online abzurufen, kosten 6 €.Mit Solidaritätsbeitrag für die Kinos, in denen das Festival sonst läuft, sind es 7 €.
→ https://www.dokfest-muenchen.de/films/view/25374
Die Washington Post nennt „Writing with Fire“ den „vielleicht inspirierendsten Film über Journalismus, den es je gab“.
Was fehlt, ist lediglich ein wenig Erklärung zur politischen Situation in Indien: Die hindunationalistische BJP (Bharatiya Janata Party) stellt seit 2014 die Regierungspartei unter dem populistischen Premierminister Narendra Modi. Und auch zur Geschichte von Khabar Lariya liefern wir hier noch ein paar Fakten, die die Doku nicht bietet:
Khabar Lahariya:
„Indiens einziger von Frauen geführter ländlicher Medienkanal“ hat seine Wurzeln in den 1990er Jahren. Ein Regierungsprogramm hatte vielen Frauen Zugang zu Bildung gegeben, Lesen und Schreiben beigebracht, auch im Banda Distrikt in Uttar Pradesh, einem Bundesstaat in Nordindien. Doch als die Kurse vorbei waren, gab es kaum Lesestoff in ihren Sprachen, um weiter zu lernen und zu lesen. Mithilfe einer NGO bildeten sie sich fort, begannen für sich und ihre Community zu berichten – in einer kleinen, vierseitigen Ausgabe. Einige Jahre nach Ende dieses Projektes, 2002, gründeten sieben Frauen Khabar Lahariya. Zuerst erschien die Zeitung alle zwei Wochen auf Hindi und Bundeli, später regelmäßig. 2015 nahm die Redaktion die digitale Transformation in Angriff, nennt sich heute „die Zukunft der Medien“. Rund 30 Frauen (https://khabarlahariya.org/about-us/the-team/) betreiben einen hyperlokalen, Video-first Nachrichtenkanal und haben mehr als 800 andere Frauen in Journalismus ausgebildet. Die Website wird in Delhi gemacht, aber die Reporterinnen kommen noch immer überwiegend aus Randgruppen der Gesellschaft und berichten aus ländlichen, oft entlegenen und armen Gebieten in Uttar Pradesh und Madya Pradesh. Es ist geplant, in andere Landesteile zu expandieren, aber die Pandemie hat diese Pläne erst einmal eingeschränkt. Khabar Lahariya finanziert sich durch Anzeigen, Abonnements und Aufträge für andere Medien.
Website: https://khabarlahariya.org/category/english/
YouTube: https://www.youtube.com/channel/UCbvNC1RcIdlM2Kzn-QnjFng
So stellt sich die Redaktion selbst vor: https://www.youtube.com/watch?v=M7kTJGzcqc0
Ein Beitrag von unserer jb-Kollegin Angelika Knop
Ein ausführliches Interview von Angelika Knop mit den Filmemacher*innen (auf Englisch) gibt es auf dem YouTube-Kanal des Journalistinnenbundes zu sehen: WRITING WITH FIRE Interview – YouTube